Montag, 13. November 2017

Am Späti, später, am Kottbusser Tor / Obst und Gemüse, say the Bells of St. Hedwig.

Sonntagabend in Mitte – kann man mal bringen © Kai von Kröcher, 2017























Mittagessen zum Frühstück, Abendbrot im Fahrstuhl. +++ Ich stand an der Einmündung der Krausnickstraße und wartete "auf mein Bild". Da, wo früher die Prostituierten in ihren atemberaubenden Prostituiertenanzügen am Straßenrand aufgereiht waren. Endlich einmal bildete ich mir das Gefühl ein, nicht alles sei ohne Sinn und Verstand. +++ Ich beobachtete ihn schon aus dem Augenwinkel heraus, wie er sich quer über die Straße anpirschte. Dann stellte er sich direkt vor mir auf. Ich dachte, okay, spul deinen Text runter und dann lass mich hier meine Arbeit tun. Dann aber sagte er irgend so etwas wie: "Mein Name ist so und so, ich bin ein Besucher. Ich hätte gerne ein Bild von mir, aber ich habe keine Kamera dabei." Das war so nicht zu erwarten, überrascht sagte ich: "Okay, das Licht sei eh gerade super." Ich stellte ihn mir auf die Straße. Er meinte, er liege um die Ecke im St. Hedwig: "Ich bin psychisch krank." Und früher sei er auch Fotograf gewesen – dann tauschten wir E-Mail-Adressen. +++ Bis auf ein paar Grüppchen doofer Touristen war die Oranienburger beinahe wie ausgestorben. Die Fotos werden das hoffentlich später einmal "transportieren". Ich dachte an früher: Man hätte alles mehr einsaugen sollen, sich viel mehr merken – von allem, was war. Ich dachte daran, wie ich einmal eine Kurzgeschichte hatte schreiben wollen, aber über den Titel war ich seinerzeit nicht hinausgekommen: Wie mir der Opernkomponist Wolfgang van Ackeren einmal das Leben gerettet hat. Die Story spielte genau hier rund um den Monbijoupark. Van Ackeren hatte unausgesprochen und intuitiv meine missliche Untergangsstimmung erfasst. Lebensmüder Liebeskummer, sozusagen. Mich von hier nach dort und dort durch die Nacht geschleppt. Die ganze Zeit hatte ich mich gefragt, wann er mich endlich allein lassen würde: Mit einer abgeschlagenen Bierflasche aus dem Obst und Gemüse wollt' ich mir lautlos im Park meine Pulsadern öffnen. Am Ende landeten wir in der Parterrewohnung von Heiner Müllers Sohns Band, die probten da an der Torstraße gerade ein neues Lied, das hieß: Vater. +++ In einer Sommernacht vor genau zwanzig Jahren war das gewesen, ein echt mieser Abend. +++ Später, am Späti am Kottbusser Tor gestern Abend, sagte der eine nahe-östliche Spätiverkäufer zum anderen, ob der das mitgekriegt habe – das, vorhin auf der Straße. Ich hörte nicht richtig zu, aber irgendwie war da wohl einer erstochen oder angeschossen worden. Oder erschossen und angestochen. Oder zusammengeschlagen. "Und keine Polizei", sagte der eine Spätiverkäufer zum anderen. "Keine Polizei?" "Nee." Dann erstmal nichts. Dann beinahe bedauernd: "Das hier draußen ist nicht Deutschland."       

Überschrift inspired by: 1984 (Roman) George Orwell, 1948
Lyrics inspired by: Himbeereis zum Frühstück © Hoffmann & Hoffmann, 1977

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